Fernsehen und Qualität (2016)

Home / Portfolio / Fernsehen und Qualität (2016)
03.03.2017
Fernsehen und Qualität (2016)

Forschungsfragen und Strategien

Dr. Frauke Gerlach (Grimme-Institut), Lucia Eskes (Grimme-Institut), Professor Dr. Peter W. Marx  (Universität zu Köln), Dr. Tanja Weber (Universität zu Köln)

Laufzeit: Oktober 2016 bis Februar 2017

Die Frage nach Qualität bildete den Ausgangspunkt des Projektes. Qualität ist ein auschlaggebendes Kriterium für die Auswahl von Medien und Medienprodukten, die Erwartungen, die an die Rezeption geknüpft werden, sowie die anschließende Bewertung des Rezipierten. Während die Frage nach Qualität beständig ist, ist das Verständnis, was Qualität ist, äußerst fluide und zwar nicht nur über die Zeit hinweg, sondern auch in verschiedenen Institutionen. Auch für die Arbeit des Grimme-Instituts ist Medienqualität ein zentraler Bezugspunkt. Der Grimme-Fernsehpreis zeichnet seit 1964 Fernsehsendungen und -leistungen aus, die „für die Programmpraxis vorbildlich und modellhaft“ (Statut Grimme-Preis, Stand September 2015) sind.
Die Bewertung von Qualität wird in Wissenschaft und Praxis von einem Paradox bestimmt. Das Grimme-Institut erzielt mit dem Grimme-Fernsehpreis eine beständige hohe gesellschaftliche Sichtbarkeit im Diskurs über Qualität im Fernsehen, es hat aber keine standardisierten Beschreibungskriterien hervorgebracht, um diese zu benennen. Genau die umgekehrte Situation ist in der Medienkulturwissenschaft zu erkennen. Dort hat sich seit Aristoteles ein elaboriertes Beschreibungssystem für die formalästhetischen Kriterien entwickelt, das aber nur wenig gesellschaftliche Sichtbarkeit erlangt hat. Dazu kommt, dass aktuell in der Medienkulturwissenschaft Qualität im Fernsehen unter dem Begriff Quality TV verhandelt wird.

Ziel des Projektes war den unterschiedlichen Qualitätsdiskursen nachzugehen. Dazu wurde erstens der aktuelle Forschungsstand zur Fernsehqualität aus wissenschaftlicher Perspektive strukturiert erfasst, um Forschungsdesiderate zu ermitteln. Zweitens wurden in Form von zwei Expert*innen-Workshops gezielt relevante Forschungsfragen im Hinblick auf die Beziehung zwischen Grimme-Fernsehpreis und Medienqualitätsdiskurs herausgearbeitet und mögliche Forschungsfelder definiert und konkretisiert. Drittens sollten Berichte von Zeitzeugen, wie zum Beispiel ehemalige Leitungen des Grimme-Fernsehpreises oder des Grimme-Institutes, in Form von Interviews eine historische Perspektive auf die Qualitätsdiskurse liefern.

Zielgruppe: Medien-, Kommunikations-, Kulturwissenschaftler*innen, Historiker*innen, (Medien-)Pädagog*innen, Medienbranche, Medienjournalist*innen, Fachöffentlichkeit

Bezug zu den Zielen des Grimme-Forschungskollegs: Die Auseinandersetzung mit Fragen der Medienqualität vollzieht sich in einem dynamischen gesellschaftlichen und medientechnischen Entwicklungszusammenhang. Darüber hinaus stellen die unterschiedlichen Qualitätsdiskurse in der digitalen Gesellschaft ein aktuelles und dynamisches Forschungsfeld von hoher kultureller und gesellschaftlicher Relevanz dar. Durch die Anbindung an den reichhaltigen und fernsehhistorisch wertvollen – und bisher noch nicht systematisch erhobenen – Material- und Datenbestand des Grimme-Instituts ergibt sich die einzigartige Chance, ein Stück deutscher Fernsehgeschichte unter dem Qualitätsaspekt zu rekonstruierten. Außerdem eröffnen die unterschiedlichen Perspektiven und Herangehensweisen die Möglichkeit, eine eigene Methodik der Qualität zu erarbeiten.

Perspektive für die Zukunft: Ziel des Projekts ist, unter Rückgriff auf die aufbereiteten Daten aus dem Grimme-Institut Archiv eine grundlegende Forschungsagenda zu formulieren und damit den Grundstein für ein groß angelegtes Forschungsprojekt zu legen.

Ergebnisse:

Die umfassende Literaturrecherche hat ergeben, dass die Frage nach Qualität im Fernsehen sich in drei große Diskurse unterteilen lässt, nämlich in Diskussionen zum Quality TV, zum Mainstream (bzw. zu E und U), zur Unterhaltung und zur gesellschaftlichen Relevanz. Zur Beantwortung der Frage nach Qualität wählten die Forscher*innen unterschiedliche methodische Zugänge. Ein weit verbreiteter Zugang ist die Wahl des Forschungsgegenstandes nach (gutem) Geschmack, woraufhin die Analyse nach zuvor festgelegten ästhetischen Kriterien erfolgt. Alternativ werden Parameter gewählt, welche oft der Debatte nach journalistischer Qualität entliehen sind. Ein weiterer Zugang versucht die Engführung des Begriffs zu überwinden, um die verschiedenen Perspektiven je nach Bezugsobjekt oder Akteur*in betrachten zu können. Die Methoden werden nicht so trennscharf eingesetzt, wie diese Listung impliziert, sondern es kommt vielmehr zu Überlappungen.

  1. Der aktuelle und zurzeit diskursbestimmende Teil der Forschung beschäftigt sich mit Qualität im Fernsehen nur im Hinblick auf fiktionale Fernsehserien. Analog zu Aristoteles‘ Poetik für (gute) Dramen werden TV-Sendungen meist nach ästhetischen Kriterien untersucht. Unter dem Stichwort Quality TV werden fortgesetzt erzählende Serien mit vielschichtige Charakteren und komplexen Figurenensembles sowie einer cinematographische Ästhetik subsumiert. Quality TV Serien bilden einen normativen Kanon, der einerseits als Meta-Genre fungiert – ähnlich wie Blockbuster – und andererseits zur Abgrenzung von „schlechtem“ Fernsehen dient. Das Aufkommen dieser Serien wird meist auf die 2000er Jahre datiert und als Paradigmenwechsel bzw. „Qualitätswende“ angesehen, der bzw. die mit häufig recht willkürlich herangezogenen Merkmalen belegt werden. Das Label Quality führt in der akademischen Debatte zu einer Geschichtsvergessenheit (Borsos 2017), in der Serien vor 2000 entweder ganz aus dem Blick geraten oder als Ausnahmeerscheinungen bezeichnet werden.
  2. Einen weiteren Diskursstrang bildet die Debatte um die als Gegensatzpaar wahrgenommene Unterscheidung von E und U bzw. von Innovation und Mainstream. Dieser Diskursstrang ist häufig mit der oben skizzierten Debatte um Quality TV verflochten. Auch hier erfolgt eine normative Setzung, denn die WissenschaftlerInnen untersuchen Artefakte, deren Analyse „lohnenswert“ ist. Damit wird unreflektiert ein bestimmter ästhetischer Geschmack propagiert bzw. eine Wertung vorgenommen, der die Fernsehforschung auf kanonisierte, qualitative Ausnahmeproduktionen verengt. Ob Mainstream oder Innovation wird häufig mit den Quoten belegt oder widerlegt. Daran schließt sich die Frage nach dem Geschmack der Masse an: Kann ein Artefakt, dass eine Masse anspricht, Qualität haben? Oder kann die Innovation nur von einem relativ kleinen Publikum goutiert werden? Schon in den Fragen spiegelt sich die Unterscheidung in E und U bzw. high und low culture wider. Eine andere Frage, die an diesen Diskurs anschließt, ist die um gesellschaftliche Relevanz bzw. im angelsächsischen Diskurs um public value. Ist gesellschaftliche Relevanz ein Qualitätsmerkmal von Fernsehsendungen und wie hoch ist sie zu bewerten? Auch die Beantwortung dieser Frage hängt vom Standpunkt der Betrachtenden ab.
  3. Eine dritte Annäherung an Qualität im Fernsehen erfolgt über den Begriff der (guten) Unterhaltung. In dieser Debatte wird die Vielschichtigkeit des Phänomens Unterhaltung deutlich, aber auch die Problematik, wie sich gute Unterhaltung analytisch definieren lässt. Die Forscher*innen erweitern den Bezugskomplex um eine dritte Dimension und übernehmen damit den Ansatz der triadisch-dynamischen Unterhaltungstheorie, die davon ausgeht, dass neben Rezipient*in und Medium auch die Situation das Unterhaltungserleben bestimmt. Die Unterhaltung wird wahrscheinlicher, je besser diese drei Faktoren aufeinander abgestimmt sind und zueinander passen (Früh 2003, 18-19).
  • Eine weitere Methode bezieht sich auf die Messung von journalistischer Qualität. In der Kommunikationswissenschaft haben sich diverse Parameter für die journalistische Qualität durchgesetzt, die mal mehr und mal weniger differenziert werden, aber in der Gesamtschau eine Form des Konsenses erreicht haben, wie etwa Richtigkeit, Relevanz, Aktualität usw. Im Anschluss daran versuchen die Fernsehforscher*innen ähnliche Parameter für ihre Untersuchungen festzulegen, zum Beispiel seien Stil, Glaubwürdigkeit, Realitätsnähe, Originalität, usw. Qualitätsaspekte von Unterhaltung (Breunig 1999). Auch hier stehen oft Geschmacksfragen im Vordergrund, was von den Autor*innen unterschiedlich bewertet wird. Der häufig vorangestellte Hinweis, dass Qualität sich nicht fassen lasse, zeigt das Paradox des Unterfangens auf.
  • Um die Vielschichtigkeit von Qualität erfassen zu können, wird als eine weitere Form der Annäherung ein funktionaler Qualitätsbegriff vorgeschlagen, der die unterschiedlichen Perspektiven je nach Bezugsobjekt (Nachrichten, fiktionale Sendungen oder Unterhaltungsshows) oder Akteur*in (Produzent*in, Rezipient*in) erfassen soll. Diese Herangehensweise relativiert das oben geschilderte Paradox, weil differenziert wird, löst es aber nicht auf, denn letztendlich werden wieder Geschmacksurteile gefällt und Parameter der Qualität erstellt.

Eine weitere Literaturrecherche zur Geschichte des deutschen Fernsehens sowie zu Fernsehpreisen hat deutlich gezeigt, dass hier ein Forschungsdefizit besteht.
Die zwei Expert*innen-Workshops im Januar und Februar 2017 bestehend aus Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und Medienpraktiker*innen haben folgende Erkenntnisse hervorgebracht:
Auch aus Sicht der Expert*innen führt eine direkte Annäherung an den Begriff der Qualität im Fernsehen zu diversen Problemen. Dagegen kann eine Untersuchung der Geschichte des Grimme-Preises anhand konkreter Beispiele implizit die Qualitätsdiskurse rund um das Fernsehen erforschen, ohne in die diversen Fallen zu tappen, die diese Untersuchungen zwangsläufig mit sich bringen (Wahl nach Geschmack, Festlegung eines Kanons und von Charakteristika, Festlegung der Relationen und Bezüge, etc.). Der Anspruch des Preises ist es, alljährlich „vorbildhaftes“ Fernsehen auszuzeichnen, womit er zum Diskursgenerator wird. Der Grimme-Preis soll anhand von Kontroversen aus verschiedenen Epochen untersucht werden, wie etwa die Auszeichnung von Rote Fahnen sieht man besser (1971) oder die Nominierung des Dschungelcamps (2013). Die Untersuchung der sich anschließenden Diskussionen erfasst sowohl die Dynamik des Qualitätsbegriffs innerhalb einer Debatte als auch seine Wandlung im historischen Verlauf. Die Diskurse um Qualität im Fernsehen liefern die Folie für die Diskussionen um die Bedeutung der Medienqualität im Digitalen.
Darüber hinaus leistet eine Untersuchung des Grimme-Preises einen wichtigen Beitrag zur deutschen Fernsehgeschichte. Die Geschichte des Grimme-Preises als Preisgeschichte bildet erstens eine relevante und bisher wenig erforschte Ergänzung zur Fernsehgeschichte, jenseits der Produktions-, der Institutions-, der Technik- oder der Programmgrammgeschichte. Zweitens liefert sie einen wichtigen Beitrag zur Schließung der großen Forschungslücke in der deutschen Fernsehgeschichte, die besonders für die Zeit ab den 1990 Jahren zu verzeichnen ist. Diese Lücke besteht, weil der Fokus des bislang größten Sonderforschungsbereichs zum Fernsehen (SFB 240 Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien in Siegen 1985-2000) zunächst bei der Aufarbeitung der Fernsehgerichte bis in die 1980er Jahre lag. Damit sind die einschneidenden Veränderungen des deutschen Fernsehens des Mediums, wie zum Beispiel die Einführung des Dualen Systems oder die fortschreitende Digitalisierung, nur in Ansätzen und meist aus ökonomischer Perspektive erforscht.
Da sich diese Umwälzungen der Fernsehlandschaft auch im Grimme-Preis spiegeln, hilft die Untersuchung des Grimme-Preises auch diese Forschungslücke zu schließen. Darüber hinaus werden evtl. die aktuellen Debatten um den Medienwandel vor der Folie des historischen Diskurses transparenter. Die Untersuchung des Grimme-Preises ist eng an die Archivierung des Preises geknüpft.

Link: www.grimme-preis.de

Foto: pixabay.com

[zurück zur Projekte-Übersicht]